„Kennen Sie die Definition von Zeit? Nein? Sie wissen aber, wofür Zeit wichtig ist und was man damit macht? Warum fragen Sie dann nach einer Definition von Industrie 4.0?“ Das ist die Antwort, die ich gern gegeben habe, wenn ich bei einem meiner Vorträge nach einer Definition für Industrie 4.0 gefragt wurde. Ich halte nichts von Definitionen und bin der Meinung, dass man sehr gut ohne sie auskommt. Dass mir die Frage das letzte Mal gestellt wurde, ist schon eine Weile her, denn der Begriff wurde in der Branche weitgehend durch „Digitalisierung“ ersetzt. Hier fragt keiner mehr nach Definitionen. Aber die Frage nach dem Sinn, gerade in der Produktion, wird hin und wieder gestellt und gibt mir Anlass, meine Sicht der Dinge zu schildern. (Eine Zusammenfassung des Textes findet ihr im Video.)
Digitalisierung ist für mich ein neuer Lösungsweg für vier alte Probleme, nämlich für Zeit-, Kosten-, Qualitäts- und Komplexitätsdruck, Probleme die die produzierenden Unternehmer seit Beginn der Industrialisierung haben. Digitalisierung KANN als Hilfsmittel dazu beitragen diese Probleme zu bewältigen. Wie das passiert, hängt von der methodischen Vorgehensweise ab, die einzelnen Prozesse im Unternehmen zu optimieren.
Digitalisierung unterstützt die schlanke Produktion
„Lean Manufacturing“ beispielsweise, setzt unter anderem auf die Eliminierung der sieben Arten der Verschwendung, die im japanischen „Muda“ genannt werden: Zu diesen Arten zählen Transport, Bestände, Bewegung, Warten, Überproduktion, Überbearbeitung und Nacharbeit bzw. Ausschuss. Zudem gibt es in der Leanliteratur Verschwendungsarten nach (Katakana Muda), die als sofort eliminierbar gelten. Diese sind: Warten, Suchen, Ablegen, Nachdenken, Doppelarbeit und das Stapeln von Teilen. Solche Verschwendungen in der Fertigung zu identifizieren ist die tägliche Aufgabe von LEAN- oder KVP-Managern, intern wie extern. Ist eine solche Verschwendung in einem Prozess identifiziert, wird nach einer geeigneten Methode gesucht, um diese zu eliminieren. Dazu gibt es zahlreiche organisatorische und technische Hilfsmittel wie Layoutänderungen, Reihenfolgeregeln, Farbcodes, Montagehilfen, Kanbanbehälter und vieles mehr. Genau hier bietet Digitalisierung weitere Optionen und das je nach Problemfall in einer anderen Ausprägung. Ein guter Digitalisierer ist aus meiner Sicht also ein Lean- oder KVP-Manager, der sich der Lösungsmöglichkeiten durch Digitalisierung für seine Problemfälle bewusst ist.
Digitalisierung ist die Automatisierung der Informationsprozesse
Ihren Vorteil spielt die Digitalisierung als Lösungsmittel vor allem dann aus, wenn man bedenkt, dass es in einer Prozesskette, eine ganze Reihe nicht physischer Prozesse gibt, die sich nur mit der Informationsverarbeitung beschäftigen. Sie werden in der Regel genutzt um die physischen Prozesse (zum Beispiel vor dem Rüsten) einzuleiten oder (durch Dokumentation) abzuschließen. Genau in diesen, oft lästigen, Informationsprozessen liegt riesiges Potential zur Eliminierung von Verschwendung. Ich habe Menschen in der Fertigung gesehen, die mehr Zeit damit verbringen Informationen zu suchen, zu verstehen oder zu erzeugen, als mit der eigentlichen Tätigkeit, für die sie ausgebildet worden sind. Besonders verwundernd ist es, dass zum Beispiel Werker dabei die Inhalte von ausgedruckten Zetteln in die Maschine eintippen, die ohnehin irgendwo schon einmal digital vorlagen. Das dieses händische Übertragen von Informationen ein häufiger Nährboden für Fehler ist, versteht sich von selbst. Genau in solchen Fällen kann die Digitalisierung helfen. Sie nimmt den Werkern und allen anderen Mitarbeitern die Informationsprozesse ab, beschleunigt diese und reduziert Fehler.
Das Ganze funktioniert aber nur dann, wenn auch wirklich eine Verschwendung vorliegt. Es auch gibt zahlreiche Prozessketten, die durch die Einführung von Digitalisierung erheblich verlangsamt wurden. Rationalität und gesunder Menschenverstand sind hier gefragt, um ein Gegengewicht zur Euphorie und zur Technikverliebtheit zu bilden.
Digitalisierung und Automatisierung
Mancher wird sich nach dem oberen Absatz denken: „Alles gut und schön, aber was ist zum Beispiel mit den kollaborativen Robotern?“
Automatisierung und Digitalisierung gehen heute oft einher, aber sie gehören nicht zwingend zusammen. Man könnte in einem Unternehmen alle informatorischen Prozesse durch Digitalisierung automatisieren, selbst wenn es sich um eine reine Manufaktur handelt, in der ein Produkt in reiner Handarbeit gefertigt wird. Auf der anderen Seite gibt es auch immer noch Automatisierungslösungen, die völlig ohne Digitalisierung auskommen und rein mechanischer Natur sind. Zugegeben, solche Lösungen findet man heute nicht mehr allzu oft, aber es gibt sie und es gab sie vor allem zu Beginn der industriellen Revolution!
Automatisierung (und jetzt sprechen wir wirklich von der Automatisierung physischer Prozesse) war in der Vergangenheit etwas für Großunternehmen, die ein Produkt in großer Stückzahl herstellen. Das Konfigurieren z. B. von Robotern war zu aufwändig und in Verbindung mit den hohen Anschaffungskosten zu teuer für mittelständische Unternehmen mit Kleinserien- oder Einzelteilfertigung.
Aber auch hier sorgt die Digitalisierung für einen Vorstoß: Einerseits werden die Kosten für Hardwarekomponenten reduziert, was zum Beispiel Roboter erschwinglich macht. Das hat aber nicht zwingend etwas mit der Digitalisierung in der Fertigung, sondern mit der allgemeinen Digitalisierung in allen Lebensbereichen zu tun. Andererseits ist auch das Konfigurieren von Automatisierungsanlagen ein Prozess, bei dem es um das Übertragen von Informationen geht. Somit sorgt die Digitalisierung durch die Automatisierung des Informationsprozesses auch hier dafür, dass das Einrichten von Robotern leichter und damit auch für Kleinserien oder Individualprodukte wirtschaftlich wird. Dabei darf nicht hart zwischen „automatisiert“ und „nicht automatisiert“ unterschieden werden. Auch die Vereinfachung eines Informationsprozesses zum Beispiel durch einfachere Bedienung trägt erheblich zur Effizienzsteigerung bei. Und das ist bei der gestiegenen Komplexität der Geräte auch bitter nötig. Man stelle sich vor, man würde alles, was heute mit einem iPad machbar ist, über die Kommandozeile von MS-DOS bedienen müssen.
Ein Gedanke zu „Was bringt Digitalisierung in der Fertigung?“
Eine kleine Anmerkung zu diesem Artikel: Das Thema neuer Geschäftsmodelle habe ich bewusst nicht betrachtet. Es gehört für mich mehr zum Produkt als zur Produktion und beides ist sauber zu Trennen: Ich kann ein digitalisiertes Produkt ohne jede Digitalisierung fertigen und genau so kann ich ein nichtdigitales Produkt volldigitalisiert fertigen. Natürlich müssen aber Produkt und Produktion zueinander passen. Digitalisierten Produkten und Geschäftsmodellen werde ich mich in separaten Artikeln widmen.